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Samstag, 19. Januar 2013

Was Gretchen (nicht) lernt...

Im Schlussabsatz meiner kurzen Geschichte der Literaturverschlimmbesserung warf ich unlängst die Frage auf, ob "Kinder wirklich Geschichten lesen wollen, in denen alles politisch korrekt, pädagogisch einwandfrei, moralisch sauber und 'zeitgemäß' zugeht"; kurze Zeit später formulierten die "Pimpfe", die es schließlich wissen müssen, es noch eine Spur schärfer und sprachen von Büchern, "in denen alles, aber auch alles gemäß der Regeln des letzten PC-Handbuches eingeebnet, gleichgemacht, verwässert, sissifiziert und weichgespült wurde". Ich hatte einen solchen Typus von Kinderbüchern den Werken jener Autoren gegenübergestellt, die mich seinerzeit an die Freuden der Literatur herangeführt hatten - beispielhaft hatte ich Otfried Preußler, Michael Ende, Karl May und Mark Twain genannt -; ganz ähnlich die Pimpfe, die sich auf "unseren Struwwelpeter, unsere Preußlers, unsere Endes, unsere Blytons" beriefen.

Die Übereinstimmungen in diesen Gegenüberstellungen kommen gewiss nicht von ungefähr. Auch wenn ich annehme (und z.T. von Kindern aus meinem Bekanntenkreis weiß), dass viele Kinder im Alter von Max, Marie und Mauritius - sofern sie überhaupt Bücher lesen - eher zu Harry Potter, Percy Jackson oder auch zu Gregs Tagebuch greifen, kann man wohl behaupten, dass wir es hier mit einer Opposition zwischen zwei grundverschiedenen Spielarten der Kinder- und Jugendliteratur zu tun haben: der realistischen, aufklärerischen, emanzipatorischen, "sozial engagierten" auf der einen und der abenteuerlichen und/oder phantastischen Richtung auf der anderen Seite. Sicherlich ist das nur eine "idealtypische" Unterscheidung, gewiss können Elemente der einen Richtung auch in werken des anderen Typs vorkommen und umgekehrt; ganz ohne Zwischenformen und Grenzfälle kommt schließlich keine Systematik aus. Im Großen und Ganzen kann man aber wohl doch annähernd jedes Kinder- und Jugendbuch der einen oder der anderen Kategorie zuordnen. Der Literaturtheoretiker Northrop Frye schrieb einmal, analog zur Einteilung der Philosophen in Platoniker und Aristoteliker könne man die Literaten in "Iliadisten" und "Odysseeisten" einteilen; im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, o scheint mir, verläuft die Grenze eher zwischen "Odysseeisten" und "Sozialpädagogen". (Eine dritte Gruppe, die ich ad hoc mal die Polkoisten nennen möchte, nach Elise Polko, der Verfasserin des Buches Unsere Pilgerfahrt von der Kinderstube bis zumeigenen Herd (1861) - also die Vertreter/innen des klassischen "Mädchenbuchs" -, dürfte heute weitgehend ausgestorben sein.)

Als einen der führenden "Odysseeisten" in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur des 20. Jahrhunderts wird man wohl den 1995 verstorbenen Michael Ende ansehen dürfen. Noch zu seinen Lebzeiten, 1994, veröffentlichte der Verlag Weitbrecht (Stuttgart/Wien) einen "Michael Endes Zettelkasten" betitelten Band mit Texten des Autors, die man andernfalls wohl als "Fragmente aus dem Nachlass" bezeichnet haben würde: kleine Erzählungen, Gedichte, Aphorismen, Dramolette, Entwürfe, Briefe und Essays. Der Band ist jedem, der Endes bekanntere Werke mit Genuss oder auch nur mit Interesse gelesen hat, wärmstens zu empfehlen; im Besonderen gilt dies für einige Texte eher theoretischen Charakters, in denen Ende sich zu seinem Selbstverständnis als Autor von Kinder- und Jugendbüchern äußert. Exemplarisch möchte ich hier die Gedanken eines zentraleuropäischen Eingeborenen (S. 55-69) und den vor der JBBY in Tokio gehaltenen Vortrag Über das Ewig-Kindliche (S. 177-198) verweisen - bei beiden Texten, wie auch bei allen anderen in diesem Band, fehlt ein Hinweis auf das Entstehungsdatum, das Buch ist offenbar nicht für den wissenschaftlichen Gebrauch bestimmt, aber das nur am Rande.

In den Gedanken eines zentraleuropäischen Eingeborenen beschreibt Ende die Lebenswelt eines Kinderbuchautoren als "Reservat" inmitten der "Zivilisationswüste", das "mit mildem Lächeln geduldet" werde (S. 55); er fügt jedoch hinzu:
"Ab und zu wird es [...] bei den Bewohnern der Zivilisationswüste Mode, sich mit uns zu beschäftigen, dann ziehen Scharen von eifrigen Missionaren durch unsere Wälder und Prärien, vermessen unsere Landschaft und ermahnen uns gütig oder streng, uns endlich der allein seligmachenden wissenschaftlichen Aufklärung zu unterwerfen und in Zukunft nur noch realistische, gesellschaftlich relevante, sozialkritische oder wenigstens emanzipatorisch wertvolle Geschichten zu erzählen. Wir versprechen natürlich alles, was sie wollen, machen auch die von ihnen verlangten Verbeugungen in die vier Himmelsrichtungen, die bei ihnen Marx, Freud, Einstein und Darwin heißen. Dann gehen sie sehr zufrieden wieder fort." (S. 56)
 Ende bekennt sich dazu, sich den Ansprüchen dieser "Missionare" entschlossen zu verweigern - nicht etwa aus purem Trotz, sondern aus der Überzeugung heraus, dass das Phantastische lebensnotwendig sei - dass das "Reservat", das er schildert, eine Oase in der von der wissenschaftlichen Aufklärung entzauberten Welt der "Zivilisationswüste" sei, einer Wüste, die im Grunde "nicht bewohnbar" ist, nicht für Kinder und "letzten Endes auch für Erwachsene nicht" (S. 63).

Eine recht scharfe Attacke gegen jene Kinderbuchautoren, die sich die Anforderungen der "Missionare" zu eigen machen, hat Ende Auch in sein 'opus magnum' Die Unendliche Geschichte (Stuttgart 1979) eingeschrieben; auf S. 26 heißt es vom Protagonisten Bastian:
"Er mochte keine Bücher, in denen ihm auf eine schlechtgelaunte und miesepetrige Art die ganz alltäglichen Begebenheiten aus dem ganz alltäglichen Leben irgendwelcher ganz alltäglicher Leute erzählt wurden. Davon hatte er ja schon in Wirklichkeit genug, wozu sollte er auch noch davon lesen? Außerdem haßte er es, wenn er merkte, daß man ihn zu was kriegen wollte. Und in dieser Art von Büchern sollte man immer, mehr oder weniger deutlich, zu was gekriegt werden.
Bastians Vorliebe galt Büchern, die spannend waren oder lustig oder bei denen man träumen konnte, Bücher, in denen erfundene Gestalten fabelhafte Abenteuer erlebten und wo man sich alles mögliche ausmalen konnte."
Nicht das Uninteressanteste an dieser Passage ist der Hinweis auf das, wovon Bastian "schon in Wirklichkeit genug" hat. Es ist ja nicht so, dass die Unendliche Geschichte nicht auch ihre "Realitätsanteile" hätte. Was man, schwerpunktmäßig in den rot gedruckten Passagen des ersten Teils und des Schlusses, über Bastians Leben außerhalb Phantásiens erfährt, ist ja gar nicht so weit entfernt von so Manchem, was man in der von Bastian verabscheuten Spielart der Kinder- und Jugendliteratur zu lesen bekommt. Ein dicklicher, verträumter Junge, der von seinen Altersgenossen sowohl wegen seiner Dicklichkeit als auch wegen seiner Verträumtheit gehänselt wird und der unter der emotionalen Unzugänglichkeit seines Vaters leidet - das gäbe Stoff genug für mehr als ein Jugendbuch der realistisch-aufklärerisch-empanzipatorischen Sorte ab. Michael Ende thematisiert so etwas also auch, nur eben auf andere Weise. Bei ihm muss Bastian erst einmal nach Phantásien reisen und die fabelhaftesten Abenteuer er- und durchleben, um einen Weg zu finden, schließlich auch seine Probleme in der 'realen Welt' anzugehen. Auf die zu erwartenden Einwände gegen diese Endesche Handlungsführung möchte ich mit einigen Versen aus Hans Magnus Enzensbergers Gedicht Der fliegende Robert antworten: 

"Eskapismus, ruft ihr mir zu /
vorwurfsvoll. /
Was denn sonst, antworte ich /
bei diesem Sauwetter! - "

Dennoch ist es nicht ohne Reiz, sich vorzustellen, was ein Autor oder eine Autorin der realistisch-aufklärerisch-empanzipatorischen (oder kurz: "sozialpädagogischen") Schule aus der Ausgangssituation der Unendlichen Geschichte gemacht hätte. Sonderlich schwierig ist es nicht, sich das auszumalen; ich denke mal, im günstigsten Fall (!) wäre dabei so etwas herausgekommen wie ein Christine-Nöstlinger-Roman.

Schlechte Laune und Miesepetrigkeit kann man Christine Nöstlinger (*1936) bzw. ihren Werken allerdings kaum vorwerfen. Ganz im Gegenteil bezeichnet es die Autorin - in einer von der Oetinger-Verlagswerbung gern und oft zitierten Äußerung - als ihre "feste Überzeugung, dass Kinder beim Lesen gern lachen". Nichtsdestoweniger darf man wohl behaupten, dass Frau Nöstlinger auf dem Gebiet der von Ende gescholtenen "sozialpädagogischen" Kinder- und Jugendliteratur eine ähnlich herausragende Stellung einnimmt wie Herr Ende auf dem der phantastisch-abenteuerlichen. Sie ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis für ihr Gesamtwerk - was mich auf den Gedanken bringt, Vertreter der "phantastischen" Richtung könnten monieren, der Namenspatron sei doch wohl einer der Ihren gewesen, und es sei eine Frechheit, diesen Preis an eine aus dem "feindlichen Lager" zu vergeben - aber ganz so ausgeprägt sind die Feindschaften da wohl doch nicht. Ein anderer schöner Preis, den Frau Nöstlinger erhalten hat, ist der Zürcher Kinderbuchpreis "La vache qui lit" ("die Kuh, die liest" - ein Name, der offenbar an den einer Schmelzkäse-Marke namens "La vache qui rit", "die Kuh, die lacht", angelehnt ist). Es läge nun allzu nahe, der Autorin den Spitznamen "die Kuh, die schreibt" zu verpassen, aber wir wollen hier mal nicht persönlich werden.

Als 'opus magnum' dieser beliebten österreichischen Autorin möchte ich ihre drei Gretchen Sackmeier-Romane ansehen, deren erster nur zwei Jahre nach der Unendlichen Geschichte erschien. Ich besitze - und man frage mich bitte nicht, warum! - die Sonderausgabe Gretchen Sackmeier³ (Hamburg 2001), die alle drei Romane in einem Band vereinigt - allerdings, ohne dass der Verlag irgendwie darauf hinweisen würde, teilweise stark gekürzt. Das hat mich, als es mir im Zuge der Lektüre auffiel, erheblich geärgert, aber trotzdem zitiere ich hier nach dieser Ausgabe - da es mir einfach unverhältnismäßig erschiene, nur für ein paar Zitate extra nach Lichtenberg zur Egon-Erwin-Kisch-Bibliothek zu fahren, wo die Originalausgaben aller drei Bände einträchtig im Regal stehen...

Der erste Band (1981) heißt zwar schlicht Gretchen Sackmeier, aber wer meint, dass die 14jährige Titelheldin deshalb auch die Hauptfigur des Romans wäre, der irrt. Gretchen ist zwar im Wortsinne die Protagonistin - sie ist die erste Figur, die dem Leser vorgestellt wird -, und sie ist auh diejenige Figur, die dem Leser strukturell am nächsten steht - insofern, als die Handlung zum größten Teil aus ihrer Perspektive geschildert wird. Dennoch sind Gretchens Probleme mit ihrem Übergewicht, ihrem Busen, den sie als störend empfindet, und einer unvermeidlichen unglücklichen Verliebtheit letztlich nur Nebenhandlungen; im Mittelpunkt der Haupthandlung steht nicht Gretchen, sondern ihre Mutter. Es handelt sich, in einem Wort zusammengefasst, um eine Emanzipationsgeschichte - um die Geschichte einer Frau, die jung geheiratet hat und nach knapp 15 Ehejahren anlässlich eines "Maturatreffens" (für Nicht-Österreicher: Matura = Abitur) feststellt, dass es ihr nicht (mehr) genügt, nur für ihren Mann und ihre drei Kinder zu leben - und dass sie obendrein, wie die ganze Familie, zu dick ist. Sie will abnehmen, eigenes Geld verdienen, studieren und Sozialarbeiterin werden und zerstreitet sich darüber mit ihrem Mann; schließlich zieht sie aus und nimmt ihre Töchter mit, während der zwölfjährige Sohn beim Vater bleibt. Ist das ein Thema für ein Kinderbuch? - Na klar; deswegen wird die Handlung ja aus der Sicht der 14jährigen Tochter geschildert. Schließlich könnte sich dergleichen auch in den Familien der prospektiven Leser abspielen; und am Beispiel Gretchens können sie lernen, wie sie als Kinder mit einer solchen Situation ungehen können und umgehen sollen.

Im zweiten Band, Gretchen hat Hänschen-Kummer (1983), steht, wie der Titel schon andeutet, Gretchens jüngerer Bruder im Mittelpunkt. Den amourösen Schwierigkeiten der mittlerweile erheblich verschlankten Titelheldin - laut S. 177 ist sie "einen Meter und sechsundsechzig Zentimeter groß" und wiegt "dreiundfünfzig Kilo", nachdem sie zur Handlungszeit von Band I noch "sechs Zentimeter kleiner [...], dafür elf Kilo schwerer" gewesen war - wird zwar breiterer Raum gegeben als im ersten Teil der Reihe, wo sie sich bereits angedeutet hatten: Gretchen ist hin- und hergerissen zwischen "dem Florian" und "dem Hinzel" (und die typisch österreichische Eigenart der Autorin, Eigennamen mit Artikel zu verwenden, treibt den norddeutschen Leser zuweilen im Geiste die Wand hoch, aber man gewöhnt sich an so Einiges), einem äußerst attraktiven, aber eher charakterschwachen Schulkameraden und einem klugen und einfühlsamen, aber recht exzentrischen älteren Jungen. Die Haupthandlung dreht sich dennoch um "das Hänschen", das die Trennung seiner Eltern nicht verkraftet, weit über das Maß der in der Familie liegenden Übergewichtigkeit hinaus regelrecht fresssüchtig wird und sich an einen bösartigen Knaben anschließt, mit dem er einen Geheimbund namens "Das schwarze Rachekreuz" betreibt, der fremde Erwachsenen nachspioniert, um sie eines 'unsittlichen' Lebenswandels zu überführen und ihnen dann Drohbriefe zu schreiben. Als Gretchen diesen Umtrieben mit Hilfe ihrer Freunde auf die Spur kommt, sind die Eltern entsetzt und beschließen, im Interesse der Kinder (bzw. dieses einen Kindes, da die beiden anderen mit der Trennung der Eltern erkennbar keine Probleme hatten) wieder zusammenzuziehen.

Im dritten Band schließlich, betitelt Gretchen, mein Mädchen (1988), ist die Titelheldin 17 und darf endlich mal selbst die zentrale Figur nicht nur auf der Reflexions-, sondern auch auf der Handlungsebene sein. Die Eltern leben weiterhin zusammen, wobei die Mutter - die ihren Mann nur noch mit "Sackmeier" anspricht - kaum einen Hehl daraus macht, dass sie darin nur ein Zweckbündnis sieht, und nebenbei ein Verhältnis mit einem jüngeren Mann hat. Gretchen selbst steht gefühlsmäßig nach wie vor zwischen Florian und Hinzel, und während sie zunächst "gar nichts dagegen einzuwenden" hätte, "sowohl zum Hinzel als auch zum Florian eine nette Liebesbeziehung zu unterhalten" - "So viel aufrechte Liebesfähigkeit traute sie sich zu" (S. 305), wird sie bald der Anspruchshaltung beider überdrüssig, woraufhin sie zunächst Florian dem Laufpass gibt und dann, im Grunde nur durch ein Missverständnis, auch ihre Freundschaft zu Hinzel in die Brüche zu gehen droht. Dass es für Gretchen und Hinzel dann doch zu einem Happy End kommt, wird auf den letzten Seiten des Romans lediglich angedeutet, aber der Titel des Bandes verrät im Grunde schon genug: "Gretchen, mein Mädchen" ist nämlich von jeher Hinzels stereotype Anrede an sie.

Die Inhaltsangabe macht den "emanzipatorischen" Charakter der Romanreihe wohl bereits unmissverständlich deutlich; die Sympathielenkung ist recht eindeutig, obwohl gleichzeitig deutlich gemacht wird, dass Gretchens Vater nun nicht gerade der Schlechtesten einer ist und auch dessen Mutter, die erzkonservative "Zwettler-Oma", durchaus sympathische Züge hat - wenngleich sie den herzensguten Hinzel, der im ersten Band eine Punkfrisur und Lederklamotten und während aller drei Bände eine Tätowierung im Gesicht trägt, für "abnormal" hält und meint, er gehöre "in einen Käfig" (S. 141f.). Dass sie nach dem Auszug der Schwiegertochter sofort auf der Matte steht, um ihrem Sohn den Haushalt zu führen, und dafür ihr geruhsames Leben in Zwettl und ihren geliebten Gemüsegarten opfert, trägt ihr - nun, nicht unbedingt Respekt, aber doch so etwas wie Mitleid ein:
"Gretchen dachte: So eine alte Frau wie die Oma ist nicht mehr zu ändern. Die kann man nicht überzeugen. Der brauch ich gar nicht zu erklären, dass sich der Papa ändern muss. Und dass sie die Veränderung verhindert. Der Oma kann man nur gut zureden! Zu ihr selbst muss man ihr zureden. Und das tat Gretchen dann auch. Sie redete nur noch von der Oma, sagte, die Oma habe ein Recht auf ein Leben in Zwettl, in ihrem Garten, bei den kleinen Melonen und den großen Erdbeeren und der Miezekatze. Und dass niemand der Oma das Leben wegnehmen dürfe, sagte sie." (S. 162)
Mit anderen Worten: Behutsam und mit "weiblicher Solidarität" wird auch die Oma auf den Weg der "Selbstverwirklichung" gelenkt. - Daneben dokumentiert die Autorin ihre aufrecht links-alternative Gesinnung in einer Reihe von Details. So erweist sie der linken Wochenzeitung Falter ihre Reverenz (S. 383), und in Bd. II trägt Gretchen, wie mehrfach beiläufig erwähnt wird, nicht einfach eine Jutetasche (da fällt mir ein alter Berliner-Witz ein: "Ick hätte jerne 'ne jute Tasche." - "Tut mir Leid, wir haben nur welche aus Leder."), sondern ausdrücklich eine "Jute-statt-Plastik-Tasche" (S. 192, 209 u.ö.). Ebenso passt es ins Bild, dass Gretchens Mitschülerin Gabriele den mangelnden Gegenwartsbezug des schulischen Geschichtsunterrichts anprangert und fordert, man solle im Unterricht lieber thematisieren,
"was die Nord-Süd Achse ist und ob ich mich mehr vor den Russen oder mehr vor den Amerikanern fürchten muss! Und ob die Mao-Witwe zu Recht oder zu Unrecht verurteilt worden ist. Und was die Amis in Südamerika machen, wüsste ich auch gern! Und was ein  Zionist ist! Und wo der Unterschied zwischen dem Arafat und dem Gaddhafi liegt! Warum erklären Sie uns das nicht?" (S. 206f.)
Ganz und gar fehlt es jedoch nicht an differenzierenden Zwischentönen. So kann man "die Marie-Luise", eine Schulfreundin von Gretchens Mutter, die diese überhaupt erst auf den Selbstverwirklichungs-Trip bringt und bei der Frau Sackmeier während ihrer Trennung von ihrem Mann wohnt, durchaus als Karikatur einer 'Kampfemanze' ansehen: Ihren (im ersten Band) sechsjährigen Sohn Pepi, den sie selbst ein "egozentrisches Biest" nennt (S. 146), erzieht sie so miserabel, dass selbst Hinzel meint, seit er Pepi und seine gleichaltrige Spielgefährtin, Gretchens kleine Schwester Mädi, "näher kenne [...], sei ihm unautoritäre Erziehung suspekt" (S. 216), und als Pepi partout mit Hinzel und nicht mit Gretchen einen Hubschrauber aus Legosteinen bauen will, weil "Mädchen [...] keine Hubschrauberbaumeister" seien, merkt Hinzel lachend an "Das ist die Aufzucht in Feministinnenkreisen" (S. 370); davon abgesehen spricht "die Marie-Luise", von Beruf Sozialarbeiterin, permanent in einem klischeehaften 'also weißt du'-Jargon und wird im dritten Band zusätzlich dadurch diskreditiert, dass sie sich erst der Esoterik und dann der "Mondreligion" (S. 371) zuwendet.

An der Gesamttendenz der Bücher ändert all das freilich wenig. So humorvoll der Text auch daherkommt, bewahrheitet sich doch auch hier die Beobachtung Bastians aus der Unendlichen Geschichte, dass man "in dieser Art von Büchern [...] immer, mehr oder weniger deutlich, zu was gekriegt werden" soll: Die Bücher zielen darauf ab, dass man aus ihnen etwas lernt, und zwar fürs Leben. Tatsächlich können die jugendlichen und prä-adoleszenten Leser, an die sich die drei Sackmeier-Romane in erster Linie wenden, aus dieser Trilogie eine ganze Menge lernen; zum Beispiel:

  • Wenn eine Ehefrau und Mutter plötzlich vom Drang nach Selbstverwirklichung ergriffen wird, dann muss ihre Familie darauf Rücksicht nehmen und sie nach Möglichkeit darin unterstützen.
  • Ist ihr Mann nicht bereit dazu, dann ist er ein Tyrann, ein Spießer und obendrein ein Muttersöhnchen, das einfach nur seine Mami durch eine Ehefrau ersetzt hat und diesen Tausch bei Bedarf auch wieder rückgängig machen kann.
  • Wenn Eltern sich trennen oder gar scheiden lassen, ist das ganz normal und kein Grund zur Aufregung.
  • Wenn Kinder dahinter kommen, dass ihre Eltern außereheliche Affären haben, dann sollen sie das locker nehmen und diskret damit umgehen.
  • Die Auffassung, Mann und Frau seien "ein Leib" (S. 257) und Ehebruch daher moralisch verwerflich, ist 'lächerlich' und 'dumm' und wird ausschließlich von verwirrten Frühteenagern vertreten, die Detektiv spielen, Drohbriefe schreiben und kaum bescholtenen Bürgern die Fensterscheiben einwerfen.
  • Wenn ein 15jähriges Mädchen mit sichtlich derangierter Kleidung nach Hause kommt, ist es "aufdringlich" von der Mutter, dafür eine Erklärung zu verlangen (S. 243).
  • Wenn es überhaupt ein berechtigtes Interesse von Eltern daran gibt, über das Sexualleben ihrer halbwüchsigen Zöglinge im Bilde zu sein, dann nur "wegen der Pille" (S, 244).
  • Im Prinzip spräche nichts dagegen, zwei Liebesbeziehungen nebeneinander zu unterhalten, wenn die Partner so 'vernünftig' wären, das mitzumachen (was sie meistens nicht sind).
  • Wenn man etwas unbedingt will, soll man es ohne jede Rücksicht auf die Befindlichkeiten und Bedürfnisse Anderer durchsetzen.
Das alles ist ohne Zweifel ungeheuer 'zeitgemäß', aber ebenso steht es außer Zweifel, dass nicht alle Eltern es gern sehen werden, wenn ihren Kindern durch ihre Freizeitlektüre solche Maximen 'beigebracht' werden. Insbesondere christliche Eltern dürften mit verschiedenen Tendenzen der Sackmeier-Romane so ihre Schwierigkeiten haben, auch wenn Hinzel, als im dritten Band das Thema AIDS zur Sprache kommt, konstatiert: "Nur absolute Keuschheit ist absoluter Schutz! Das kann dir jeder Herr Pfarrer sagen!" (S. 333), und Gretchen selbst sich zu einer "christlich zwischenmenschliche[n]" Gesinnung bekennt (S. 449).

Es liegt nicht fern, zu befürchten, dass die Bestrebungen professioneller oder selbst ernannter 'Literaturpädagogen', den Gesamtbereich der Kinder- und Jugendliteratur in aufgeklärt-emanzipatorischem und 'zeitgemäßem' Sinne 'auf Linie zu bringen', der Verbreitung von Einstellungen und Auffassungen, wie sie hier am Beispiel der Sackmeier-Trilogie aufgezeigt wurden, weiter Vorschub leisten. Besorgte Eltern können nun zwar auf Bücher zurückgreifen, die sie aus ihrer eigenen Kindheit kennen und schätzen und eventuell noch auf dem Dachboden haben, ansonsten aber wohl zumindest noch antiquarisch erwerben können. Zu glauben, man könne seine Kinder gänzlich von Einflüssen fernhalten, die man als schädlich ansieht, dürfte allerdings illusorisch sein. Die gute Nachricht ist, dass das auch gar nicht nötig ist. Wäre es tatsächlich so, dass Kinder und Jugendliche die Botschaften, die ihre Lektüre ihnen vermitteln will, quasi per Osmose in sich aufnehmen und unhinterfragt übernehmen, dann hätten ja auch diejenigen Recht, die glauben, ein Kind würde dadurch zum Rassisten, dass es in einem Buch das Wort "Neger" liest. Ich erinnere mich gut daran, dass ich den mittleren Sackmeier-Band, Gretchen hat Hänschen-Kummer, erstmals im Alter von 12 Jahren gelesen habe und schon damals, dank meiner katholischen Erziehung, einige der in diesem Buch propagierten Moralvorstellungen befremdlich fand. Außerdem verabscheute ich den Charakter der Marie-Luise, zumal ich ähnliche (wenn auch weniger extreme) Frauencharaktere aus dem wirklichen Leben (z.T. sogar aus der Kirchengemeinde!) kannte und nicht leiden konnte. Trotzdem hat mir das Buch im Ganzen gut gefallen, so gut, dass ich im Deutschunterricht sogar ein Referat darüber gehalten habe. Was ich damit sagen will: Man sollte Kinder und Jugendliche nicht für so leicht beeinflussbar halten, dass sie ihre Weltanschauung nach jedem Stück unterhaltsamer Lektüre ausrichten, das ihnen in die Hände fällt. Und wenn Eltern ihre eigenen Kinder doch für so leicht beeinflussbar halten, scheinen mir daraus nicht zuletzt auch Zweifel an der eigenen Erziehung zu sprechen.

(P.S.: Ich gebe zu, ich habe keine eigenen Kinder - lediglich zwei Neffen und eine bunte Schar von Nachhilfeschülern -, und wenn es unter meinen Lesern Eltern gibt, die meine Schlussbemerkung falsch und obendrein anmaßend finden, nehme ich das in Demut zur Kenntnis und versichere, niemanden wegen seiner Erziehungsmaximen kritisieren oder gar belehren zu wollen...)

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