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Samstag, 10. Oktober 2015

Lamechs Rückkehr

HINWEIS: Der folgende Beitrag erschien zuerst - leicht bearbeitet  - am 26.09.2015 in der Zeitung Die Tagespost, S. 9. 

Sollte Fahrraddiebstahl mit körperlicher Züchtigung bestraft werden? Sollte man Menschen, die Müll auf die Straße werfen, das Haus anzünden? Immer mehr Menschen scheinen mit solchen drakonischen Strafen zu sympathisieren – zumindest dann, wenn sie selbst die Geschädigten sind. Nicht nur in Sozialen Netzwerken ist eine Rückkehr des Konzepts der exzessiven Vergeltung zu beobachten – eine Idee, die menschheitsgeschichtlich eigentlich seit Jahrtausenden überwunden sein sollte.

von Tobias Klein

Unlängst schnappte ich unfreiwillig einige Bruchstücke eines Gesprächs zwischen zwei mir nicht näher bekannten Personen auf – einem etwa dreizehnjährigen Mädchen und einer älteren Frau. Ein Satz des Mädchens machte mich hellhörig: „Mein Vater hat gesagt, wenn das so weitergeht, fackelt er das Asylantenheim ab.“ Im weiteren Verlauf schilderte das Mädchen, womit die Bewohner der besagten Unterkunft diesen Zorn auf sich gezogen hatten: Sie würden Müll auf die Straße werfen und Passanten anpöbeln, besonders Frauen und Kinder.

Man kann verstehen, dass der Müll auf der Straße bei den Anwohnern für Unmut sorgt, dass sie das Anpöbeln von Frauen und Kindern, das bei den Betroffenen womöglich starke Ängste auslöst, nicht hinnehmen wollen. Aber sollte es nicht eigentlich offensichtlich sein, dass es eine völlig überzogene Reaktion auf derartige Vergehen darstellt, den Übeltätern das Haus anzünden zu wollen? – In Zeiten, in denen Brandanschläge auf Unterkünftefür Asylsuchende an verschiedenen Orten Deutschlands nicht nur angedroht, sondern auch ausgeführt werden, mag die Vermutung nahe liegen, diese Überreaktion habe ihre Ursachen in fremdenfeindlichen Vorurteilen, in der aggressiven Stimmung gegen Flüchtlinge und Migranten, die in Teilen der Gesellschaft geschürt wird. Womöglich würde der Vater weniger drastische Vergeltungsmaßnahmen in Erwägung ziehen, wenn andere Nachbarn – und nicht ausgerechnet „die aus dem Asylantenheim“ – in solcher Weise Ärgernis erregten.

Sicher kann man sich da allerdings nicht sein. Exzessive Vergeltung, oder zumindest die Androhung einer solchen, scheint insgesamt im Trend zu liegen. Im Internet kursieren zahlreiche Fotos von Aushängen, auf denen Menschen, denen beispielsweise ein Fahrrad gestohlen wurde, dem Dieb drastische Strafen androhen; das reicht von dem bloßen Wunsch, der Betreffende möge sich „den Hals brechen“, bis hin zu der unverhohlenen Drohung „Ich werde dich aufschlitzen“. Neben Fahrraddiebstahl ist auch Tierquälerei ein Tatbestand, der oft extreme Reaktionen hervorruft: Lässt jemand beisommerlichen Temperaturen einen Hund im Auto zurück, machen die Forderungen nach strenger Bestrafung des Täters zuweilen nicht einmal vor dem Ruf nach der Todesstrafe halt. Die Weiterverbreitung derartiger Botschaften in Sozialen Netzwerken lässt ein hohes Maß an Zustimmung für solche Rachegedanken erkennen. Überhaupt scheint in Netzwerken wie Facebook die Hemmschwelle für drastische Drohungen besonders niedrig zu sein: Hier genügt zuweilen schon eine Meinungsäußerung, die als beleidigend empfunden wird, um mit Mord- oderVergewaltigungsdrohungen beantwortet zu werden.

Dass ein solcher Verlust des Gefühls für die Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe oder, anders ausgedrückt, von Schaden und Wiedergutmachung Anlass zu Besorgnis gibt, braucht wohl kaum eigens betont zu werden. Menschheitsgeschichtlich kann man das Prinzip der exzessiven Vergeltung als ein Relikt aus grauer Vorzeit betrachten. In einem der vermutlich ältesten Texte der Bibel, dem „Lied des Lamech“ (Genesis 4,23f.), heißt es: „Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede! Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde, und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ Dieser Lamech, der sich damit brüstet, jeden ihm zugefügten Schaden vielfach zu vergelten, ist ein Enkel Kains, des ersten Mörders der biblischen Urgeschichte; der letzte Vers stellt einen direkten Zusammenhang zwischen der Praxis der exzessiven Blutrache und der Verfluchung Kains als Folge der Ermordung seines Bruders Abel her. Dass Lamech sich mit der Verherrlichung seiner Gewalttätigkeit gerade an seine beiden Frauen richtet – er ist übrigens auch der erste in der Bibel erwähnte Polygamist –, lässt darauf schließen, dass er damit nicht zuletzt auch seine Virilität betonen will.

Im so genannten „Bundesbuch“ des Volkes Israel, das im Buch Exodus unmittelbar auf die Zehn Gebote folgt, wird das Recht auf Vergeltung dagegen strikt in Hinblick auf Verhältnismäßigkeit reguliert: „Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme“ (Exodus 21,23-25). Beinahe gleich lautende Bestimmungen finden sich auch schon im babylonischen Codex Hammurapi aus dem 18. Jh. v. Chr.: Es wird betont, dass die Strafe für ein Vergehen dem entstandenen Schaden entsprechen müsse. Dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip, auch genannt „ius talionis“, zieht sich durch die römische und die mittelalterliche europäische Rechtsprechung und wird als Regel für einen so zu sagen „privaten“ Vollzug von Vergeltung letztlich erst in der Neuzeit durch die Idee des Gewaltmonopols des Staates obsolet, die jegliche Selbstjustiz untersagt.

Diese Ächtung der Selbstjustiz ist nicht zuletzt deshalb eine so bedeutende zivilisatorische Errungenschaft, weil nach der Logik der Blutrache jeder Akt der Vergeltung wiederum der Gegenseite einen Schaden zufügt, der seinerseits Vergeltung erfordert. Ein häufig Mahatma Gandhi zugeschriebener Satz bringt das Dilemma auf den Punkt: „‘Auge um Auge‘ führt dazu, dass die ganze Welt erblindet.“ Die zu Recht wohl berühmteste Aufforderung dazu, den aporetischen Kreislauf der Vergeltung zu durchbrechen, stammt aus der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm“ (Matthäus 5, 38-41). – Man wird kaum leugnen können, dass diese Forderung Jesu – wie so viele ethische Anforderungen, die Er an Seine Gläubigen richtet – eine schwere Zumutung darstellt. Es fällt leicht, dagegen einzuwenden, dass derjenige, der diese Weisung befolgt, sich gegenüber demjenigen, der sich nicht daran hält, stets im Nachteil befindet und so zu einem leichten Opfer für jedwede Form von Ungerechtigkeit wird. Dieser Einwand verkennt jedoch, dass das in diesen Worten Jesu geforderte Verhalten darauf abzielt, beim Gegner eine Veränderung seiner Haltung zu bewirken. Die Ethik Jesu begnügt sich nicht mit der Forderung, auf Vergeltung für erlittenes Unrecht zu verzichten, sondern geht noch darüber hinaus, indem sie dazu aufruft, dem Gegner freiwillig noch mehr zu geben, als dieser fordert. Diese Freiwilligkeit durchbricht radikal die Logik der Gewalt und des Zwangs und ist somit geeignet, das Verhältnis der Kontrahenten zueinander neu zu definieren; sie strebt – um es mit den WortenAbraham Lincolns zu sagen – darauf hin, den Feind zu besiegen, indem man ihn zum Freund macht.

Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Ethik, in der die Freiwilligkeit eine so zentrale Rolle spielt, nicht zur Basis einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden kann. Dennoch trägt auch der moderne Rechtsstaat das Seine dazu bei, die Mechanismen der Vergeltung zu durchbrechen, indem er die Justiz als neutrale Instanz zwischen die streitenden Parteien stellt und unabhängig von deren Befindlichkeiten definiert, was Recht ist. Wenn in einem solchen Rechtsstaat der Ruf nach Selbstjustiz laut wird, dann spricht daraus für gewöhnlich die Auffassung, der Staat verfolge oder bestrafe begangenes Unrecht nicht konsequent oder hart genug. Das betrifft naturgemäß besonders solches Unrecht, als dessen – tatsächliches oder auch nur potentielles – Opfer man sich selbst sieht. Um auf ein oben genanntes Beispiel zurückzukommen: Wem ein Fahrrad gestohlen wird, für den bedeutet dies womöglich eine massive Schädigung – einen zumindest temporären Verlust von Mobilität, mithin eine Einschränkung seiner persönlichen Freiheit, Terminschwierigkeiten, zusätzliche Kosten, Stress. Vor dem Gesetz dagegen ist ein Fahrrad nur ein Gegenstand. Der Drang zur Selbstjustiz entsteht, wenn das individuelle Gefühl der erlittenen Schädigung gegenüber dem unpersönlichen Bewertungsmaßstab des Gesetzes verabsolutiert wird.

Wie dieser Drang zur Selbstjustiz schließlich auch den Jahrtausende alten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit über Bord werfen und zur exzessiven Vergeltung tendieren kann, dafür ist das oben angesprochene „Lied des Lamech“ ausgesprochen lehrreich. Der Lamech des Buches Genesis singt ein Loblied auf sich selbst und offenbart damit ein übersteigertes Selbstwertgefühl: Er ist stolz auf seine Kraft und Gewalttätigkeit, darauf, dass er zwei Frauen hat, und auf seine Abstammung von dem Mörder Kain. Er fühlt sich berechtigt, seinen Gegnern weit Schlimmeres anzutun, als diese ihm angetan haben, weil er meint, mehr wert zu sein als sie. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht von der Gleichwertigkeit der Menschen aus: Auch wenn es in einem Unrechtsfall Täter und Opfer gibt, haben beide prinzipiell dieselben Rechte. Wird diese Gleichheit an Wert und an Rechten verneint, dann wird die Forderung nach Verhältnismäßigkeit gegenstandslos. So bewertete schon der Codex Hammurapi Körperverletzungen an Sklaven grundsätzlich anders als Körperverletzungen an Freien. Es entbehrt mithin nicht einer gewissen inhärenten Logik, wenn Menschen vor allem solchen Personen gegenüber zu exzessiver Vergeltung neigen, die sie aufgrund rassistischer, kulturalistischer oder anderer Vorurteile – bewusst oder unbewusst – für minderwertig halten. Dass dies weder mit rechtsstaatlichen Prinzipien noch mit dem christlichen Menschenbild vereinbar ist, sollte sich indessen von selbst verstehen. 

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