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Freitag, 2. Dezember 2016

Konservatismus im Karohemd

Na, lieber Leser und vor allem liebe Leserin: Hast du schon die lang und bang erwartete neue Gilmore Girls-Staffel auf Netflix gesehen? - NEIN? - Hast du es denn noch vor? Wenn ja, dann hör sofort auf zu lesen. Spoileralarm und so. 

-- Na gut: Ein Absatz geht noch. Wie ich schon einmal ausgeführt habe, bin ich ja erst recht spät auf den Gilmore Girls-Geschmack gekommen, und das verdanke ich, wie so Vieles, meiner Liebsten, die schon während der deutschen Erstausstrahlung der zwischen 2000 und 2007 entstandenen Serie ein Fan war. Im zurückliegenden Frühjahr hat sie mich dazu angestiftet, die komplette Serie - sieben Staffeln! - mit ihr zusammen anzuschauen; oft so um die drei Episoden an einem Abend. Das Ziel war, damit fertig zu sein, ehe auf Netflix die Fortsetzung Gilmore Girls - A Year In The Life erschiene. Tatsächlich waren wir sogar deutlich früher am Ende der 7. Staffel angelangt, und dann ging's erst mal auf den Jakobsweg. Nach unserer Rückkehr gab es mindestens zwei Anläufe meiner Liebsten, mich zum Anschauen der Fortsetzung zu überreden, worauf ich erwiderte, ich fühle mich "innerlich noch nicht bereit dazu". Letztlich erübrigte sich da jegliche Diskussion, da sich herausstellte, dass die neue Staffel ohnehin noch gar nicht draußen war. Am Freitag, dem 25.11., kam sie dann endlich - aber an dem Abend hatten meine Liebste und ich Anderes zu tun. Also begannen wir am Samstag mit dem Anschauen und schafften die vier Episoden in drei Tagen.  

(Bildquelle hier.)

Zur Freude der Fans ist nahezu die gesamte Originalbesetzung der Serie wieder mit von der Partie. Die bedeutendste Ausnahme betrifft "Grandpa" Richard Gilmore: Der Darsteller dieser Rolle, Edward Herrmann, starb im Jahr 2014, folglich musste auch sein Rollencharakter sterben. Eine umfangreiche Rückblende in der ersten Episode von A Year In The Life schildert seine Beerdigung und Trauerfeier; und natürlich hat der Umstand, dass er nicht mehr da ist, erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Gilmore-Frauen, besonders zwischen Emily und Lorelai. Dieser Umstand prägt die gesamte Staffel bis zum Schluss. 

Lange auf der Kippe stand die Mitwirkung von Melissa McCarthy als Sookie - bedingt dadurch, dass Ms. McCarthys Schauspielkarriere seit der letzten Gilmore Girls-Staffel erheblich Fahrt aufgenommen hat; u.a. war sie jüngst in einer der Hauptrollen im Remake von Ghostbusters zu sehen. Aber nachdem dreieinhalb Episoden lang darüber geredet wird, warum Sookie nicht da ist und wie sehr sie vermisst wird, taucht sie pünktlich zum Finale doch wieder auf - nur für eine Szene, aber das ist eine Sookie-Szene wie aus dem Bilderbuch. 
Ansonsten fehlen von den wichtigen Seriencharakteren eigentlich nur Liz und T.J. (von denen gleichwohl wiederholt die Rede ist: Sie befinden sich vorübergehend in den Fängen einer obskuren Gemüse-Sekte), und der Vollständigkeit halber könnte man noch Max Medina und Dave Rygalski erwähnen, die aber ja schon lange aus der Serie verschwunden waren. Insgesamt unterstreicht es den warmherzigen, liebevollen Charakter, der die Serie von jeher ausgezeichnet hat, dass in diesem Revival sogar ausgesprochen episodischen Charakteren ein kleines Comeback gegönnt wird; sogar Robert, Colin und Finn, Logan Huntzbergers verrückte Freunde aus der Life & Death Brigade, haben in der letzten Episode einen ausgesprochen grandiosen Gastauftritt. 

Gleichzeitig ist festzuhalten, dass das im Vergleich zur ursprünglichen Serie erheblich veränderte Sendeformat  - nur vier Episoden, diese dafür aber jeweils in Spielfilmlänge - auch eine erheblich veränderte Dramaturgie bedingt. Für eigenständige Nebenhandlungsstränge um andere Charaktere als die Mitglieder der Familie Gilmore ist da kein Platz mehr. In besonders auffälligem Maße betrifft das Rorys beste Freundin Lane, die in den früheren Staffeln phasenweise eine gleichberechtigte Hauptfigur war, in A Year In The Life hingegen zu einer bloßen Randfigur schrumpft. Das ist ein bisschen schade, aber man kann nun mal nicht Alles haben.  

Soweit in loser Folge einige erste Eindrücke. Nun aber mal ans Eingemachte. Nachdem ich mir vorerst nur die erste der vier neuen Episoden angesehen hatte, entdeckte ich mittels der Sozialen Netzwerke zwei Rezensionen zu Gilmore Girls - A Year In The Life, die ich, da sie ebenfalls Spoiler enthielten, zunächst nur anlas, inzwischen aber, nachdem ich mit dem Gucken fertig bin, doch ganz gelesen habe: eine von Amy Plitt im Rolling Stone und eine von Gracy Olmstead im Federalist. Beide Rezensentinnen sind sich in überraschend vielen Punkten einig, und in einigen davon kann auch ich ihnen zustimmen. Voll des Lobes, und zwar zu Recht, sind sie über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Lorelai Gilmore und ihrer Mutter Emily. Durch den Tod ihres Mannes droht Emilys wohlgeordnetes Upper-Class-Leben zwischenzeitlich gründlich aus den Fugen zu geraten, aber letztlich reift sie daran, und im Zuge dessen reift auch ihre Beziehung zu ihrer Tochter. Das ist eindringlich und liebevoll dargestellt und tut dem Zuschauer wohl. -- Ein wesentlicher Kritikpunkt beider Rezensentinnen - den, unabhängig davon, auch eine Gilmore-Girls-begeisterte Facebook-Freundin und Bloggerkollegin von mir geäußert hat - betrifft hingegen Rory. So erstaunlich wenig sie sich über die Jahre äußerlich verändert hat, so deutliche Brüche weist ihr Charakter auf. Nachdem die zu Beginn der Serie 15-jährige Rory in der alten Serie stets - wenn auch mit einem auffälligen postpubertären "Durchhänger" in Staffel 6 - ein ausnehmend kluges, vernünftiges, verantwortungsbewusstes und strebsames Mädchen mit hohen moralischen Ansprüchen an sich selbst gewesen ist, wirkt die "Thirtysomething"-Rory von A Year In The Life weit unreifer als ihr jüngeres Selbst. Eine nachgeholte Rebellion? Gegen wen oder was? Während des größten Teils der vier Episoden ist Rory antriebsschwach, unentschlossen und sprunghaft - so kennt man sie gar nicht! Beruflich kommt sie auf keinen grünen Zweig, und ihr Liebesleben ist erst recht ein einziges Chaos: Seit zwei Jahren hat sie eine Fern- bzw. Pendelbeziehung mit einem jungen Mann, der so farblos und uninteressant ist, dass sie wiederholt vergisst, mit ihm Schluss zu machen - das ist als running gag durchaus witzig, aber sympathisch ist was Anderes -; und parallel dazu hat sie eine Affäre mit ihrem Exfreund Logan, der allerdings verlobt ist. 

Einig sind sich die Rezensentinnen Plitt und Olmstead auch darin, dass ihnen der Schluss missfällt - obwohl die Kritik im Rolling Stone in der Überschrift behauptet, es sei "der Schluss, den die Fans schon immer wollten". Verraten werde ich den Schluss hier nicht - so viel Spoiler muss dann doch nicht sein -, aber Gracy Olmstead weist im Zusammenhang mit ihrer Kritik am Schluss der Serie auf einen Umstand hin, der mir bemerkenswert scheint. Gilmore Girls - A Year In The Life war nicht zuletzt deshalb ein Herzensanliegen für die Serienerfinderin Amy Sherman-Palladino und ihren Ehemann Daniel Palladino, weil sie aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem produzierenden Studio Warner Brothers an der 7. Staffel der ursprünglichen Serie nicht mehr beteiligt gewesen waren und der Serie daher nicht den Schluss hatten geben können, der ihnen vorschwebte. Mit A Year In The Life haben sie nun den "richtigen" Schluss quasi "nachgeliefert" - aber inzwischen sind nun mal neun Jahre vergangen und die Charaktere entsprechend älter. Wie Gracy Olmstead sehr überzeugend ausführt, wäre der Schluss von A Year In The Life erheblich glaubwürdiger und befriedigender, wenn er neun Jahre früher stattgefunden hätte - mit einer Rory, die gerade das College abgeschlossen hat, anstelle einer über 30-jährigen Rory. 

Aber reden wir nicht über den Schluss, den ich ja nicht verraten will; viel interessanter finde ich etwas Anderes. Die großen Übereinstimmungen zwischen den Kritiken von Amy Plitt und Gracy Olmstead fand ich nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sie in so unterschiedlich ausgerichteten Publikationen erschienen sind. Während der Federalist als betont konservativ gilt, kann man den Rolling Stone wohl als ausgesprochen linksliberal bezeichnen. Dass in beiden Periodika Besprechungen der neuen Gilmore Girls-Staffel erschienen sind, die bei aller Kritik doch eine tiefe Liebe zur "Marke" Gilmore Girls erkennen lassen, zeigt schon mal, dass diese Serie ein - sagen wir mal - "weltanschaulich" sehr gemischtes Publikum anzusprechen und für sich einzunehmen vermag. Letzteres übrigens unbeschadet der Tatsache, dass die Protagonistinnen der Serie unverkennbar der Demokratischen Partei nahe stehen: Im Laufe der Serie werden Bill und Hillary Clinton mehrfach lobend bis bewundernd erwähnt, auch gelegentliche Seitenhiebe auf George W. Bush fehlen nicht, und am Ende der 7. Staffel erhält die angehende Journalistin Rory das Angebot, Barack Obama auf seiner Wahlkampftour zu begleiten. Dass die Serie dennoch so zu sagen "überparteilich" populär war und ist, mag man darauf zurückführen, dass die Autoren es zu vermeiden gewusst haben, irgendeine gesellschaftliche Gruppe allzu sehr zu verprellen; aber interessanterweise gelingt dies gerade nicht dadurch, dass kontroverse Themen ausgespart würden. Vielmehr werden solche Themen auf eine so mehrdeutige Weise zur Sprache gebracht, dass unterschiedlich gesonnene Zuschauer ihren jeweiligen Standpunkt irgendwie in der Serie "wiederfinden" können.  

Zum Teil wird das dadurch erreicht, dass unterschiedliche, ja sogar widersprüchliche Einstellungen und Ansichten auf verschiedene Charaktere "verteilt" werden - aber auch dies nicht in einem so einschichtigen Sinne, wie man sich das vielleicht vorstellen könnte. Es gehörte für mich von jeher zum besonderen Charme der Serie, dass sie den Zuschauer dazu bringt, absolut jede Serienfigur früher oder später liebzugewinnen. Am längsten habe ich dafür bei Taylor Doose gebraucht, dem Supermarktbesitzer, tyrannischen Stadtverordneten und unermüdlichen Organisator von Stadtfesten und sonstigen skurrilen Events in Stars Hollow. Klar: Taylor nervt. Er ist ein autoritärer Charakter, unfassbar eitel und auf sonderbare Weise gleichzeitig einfältig und verschlagen. Aber er ist einfach unverzichtbar für das Universum von Stars Hollow - das zeigt sich spätestens, als er in Staffel 5 vorübergehend vom Amt des Stadtverordneten abgewählt wird. Taylor illustriert exemplarisch, dass Innovation und Spießigkeit sich nicht ausschließen: Er ist ständig bestrebt, Stars Hollow zu "modernisieren" - sei es, dass er für die Installation einer (praktisch gesehen überflüssigen) Fußgängerampel kämpft oder, in der neuen Staffel, für den Anschluss des Ortes ans Kanalisationsnetz; gleichzeitig ist er bestrebt, das historische Erbe von Stars Hollow zu pflegen, hat aber leider überhaupt keine Ahnung von Geschichte, weshalb seine diesbezüglichen Bemühungen auf ein verkitschtes Zerrbild einer "historischen" Kleinstadt hinauslaufen. Sein ewiger Gegenspieler - bei all seinen Unternehmungen - ist Luke, der wirkliche Konservative im Serienkosmos und zugleich die nahezu einzige Stimme des gesunden Menschenverstands im Exzentrikernest Stars Hollow. Irgendwann begreift man: Es braucht einen Taylor, um in Stars Hollow jene skurril-überzeichnete Idylle zu schaffen, die dieses Städtchen so liebenswert macht - und es braucht einen Luke, damit diese skurrile Idylle nicht völlig unerträglich wird. 

Ich komme auf diesen Punkt - und insbesondere auf Lukes Rolle als "Stimme des gesunden Menschenverstands" - noch zurück. Gleichzeitig entschuldige ich mich an dieser Stelle schon mal für eine gewisse Sprunghaftigkeit im Aufbau dieses Artikels. Ich kann nichts dafür: Diejenigen Aspekte, die ich an Gilmore Girls - A Year In The Life besonders bemerkenswert und kommentarwürdig finde, sind so facettenreich, dass ich nicht anders kann, als sie aus einer Vielzahl verschiedener Blickwinkel anzugehen. Einer davon ist, dass trotz der oberflächlich betrachtet recht "liberalen" Ausrichtung der Serie (oder zumindest ihrer beiden Haupt- und Titelfiguren) die Rezension im konservativen Federalist keinerlei eindeutig "weltanschaulich" motivierte Kritik enthält, diejenige im eher "linken" Rolling Stone hingegen schon - wenn auch nur in einem Detail: Rezensentin Amy Plitt bemängelt, es fehle der Serie - schon immer und immer noch - an "diversity"; als positiv hebt sie an dieser Stelle jedoch hervor, Michel, der Concierge von Lorelais Hotel, sei in der neuen Staffel endlich "out and proud" - nämlich mit einem Mann verheiratet, der ihm obendrein mit einem Kinderwunsch in den Ohren liegt. Ich gestehe, ich fand diese Wendung nicht so toll. In den früheren Staffeln zeichnete sich Michel zwar durch einen Gestus aus, der in vielerlei Hinsicht gängigen Schwulenklischees entsprach, aber ob oder dass er tatsächlich homosexuell ist, wurde nie thematisiert; das fand ich erheblich reizvoller. Dass das Thema Homo-Ehe in der neuen Staffel eine Rolle spielen musste, ist aus Gründen, auf die ich in Kürze eingehen werde, durchaus einsichtig, und es war wohl schlicht naheliegend, dafür auf die Figur Michel zurückzugreifen; man könnte aber mit einigem Recht sagen: ein bisschen zu naheliegend. 

Und wo wir schon bei kontroversen Themen sind: In einem früheren Artikel habe ich mich über die implizite Pro-Life-Message geäußert, die man in der Familiengeschichte der Gilmores erkennen kann, wenn man denn will. Als ich das schrieb, war ich noch nicht ganz mit der ersten Staffel fertig; in einer späteren Staffel wurde das Thema dann noch erheblich direkter angesprochen, in Form einer Rückblende, die den Zuschauer in die Zeit von Lorelais Schwangerschaft katapultierte. In dieser Rückblende debattieren Lorelais und Christophers Eltern über den Umstand, dass ihre jeweiligen Kinder ein gemeinsames Kind erwarten, und Christophers Vater - so ziemlich der einzige durch und durch unsympathische Charakter der gesamten Serie - deutet an, man könne das "Problem" durch eine Abtreibung "lösen". Emily widerspricht energisch: Das komme überhaupt nicht in Frage. Viel deutlicher kann man's wohl kaum zeigen: In letzter Konsequenz verdankt Rory Gilmore die Tatsache, dass sie überhaupt geboren werden konnte, der bedingungslosen Pro-Life-Einstellung ihrer Großmutter. Da wirkt es dann schon ein bisschen ironisch, dass in den Staffeln, in denen Rory in Yale studiert, an der Wand ihres Wohnheimzimmers ein Plakat von Planned Parenthood hängt, mit dem Schriftzug "Stop The War On Choice". Ein eindrucksvolles Beispiel für die gemischten Botschaften, die die Serie in weltanschaulichen Fragen aussendet. Man darf hoffen, dass Planned Parenthood sich dieses product placement Einiges hat kosten lassen. Damit wären die staatlichen Fördermittel wenigstens gut angelegt. Und noch ein anderes Thema aus dem Gesamtbereich Lebensschutz kommt in der Serie zur Sprache: In irgendeiner Folge - welche Staffel das war, habe ich mir nicht gemerkt - nehmen Rory und ihre Kommilitonin Paris Geller an einem Debattierwettbewerb teil und sollen über Sterbehilfe sprechen. Das Los entscheidet, dass Paris und Rory sich aussuchen dürfen, ob sie den Pro- oder den Contra-Standpunkt vertreten, und Paris entscheidet sich enthusiastisch für Pro. Okay, zu Paris passt das. Aber Rory macht immerhin mit. -- Was hat das nun mit der neuen Staffel zu tun? Oberflächlich betrachtet nicht viel, aber in einem tieferen Sinne schon. In der ersten Episode nämlich steht die Frage im Raum, ob Lorelai und Luke zu ihrem Glück womöglich ein gemeinsames Kind fehlt; da Lorelai aber schon weit über 40 ist, erwägt sie, diesem Kinderwunsch mit Hilfe einer Leihmutter abzuhelfen. Die ethische Problematik von Leihmutterschaft wird an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise diskutiert; stattdessen scheitert das Projekt ganz einfach daran, dass Luke - wie gesagt, die Verkörperung des gesunden Menschenverstands in der Serie - diese Vorstellung von vornherein bizarr findet; und dass der Zuschauer dazu neigt, sich dieser Sichtweise anzuschließen, wird außer durch Lukes Position als unangefochtener Sympathieträger auch dadurch unterstützt, dass die Chefin der Vermittlungsagentur für Leihmütter und künstliche Befruchtung niemand anders ist als eben die manisch-soziopathische Paris Geller. 

Diese für die weitere Handlung letztlich folgenlose Thematisierung von Leihmutterschaft reiht sich ein in eine bunte Abfolge von Episoden und Anekdoten, die sich mit gesellschaftlichen Trends und medialen Entwicklungen der jüngsten Zeit befassen; in diese Reihe gehört bespielsweise die neueste Geschäftsidee des allzeit umtriebigen Kirk, nämlich eine dilettantische Imitation eines Carsharing-Services, den er Ooober nennt; der running gag, dass Luke in seinem Café neuerdings WLAN hat, seinen Gästen aber ständig falsche Passwörter gibt, weil er nicht will, dass die es benutzen; Taylors Plan, in Stars Hollow eine Gay Pride-Parade zu veranstalten, was jedoch daran scheitert, dass es im Kleinstädtchen nicht genug Schwule gibt (in diesem Zusammenhang wird auch die Idee geäußert, man könne sich ja Schwule aus anderen Orten "ausleihen"); und der Auftrag des Magazins Gentleman's Quarterly an Rory, eine Reportage über "Schlangestehen als Trend" zu schreiben (was übrigens darauf hinausläuft, dass Rory einen One-Night-Stand mit einem Mann im Wookie-Kostüm hat). Und ich möchte behaupten, auch das wie gesagt am Beispiel von Michel ins Spiel gebrachte Thema Homo-Ehe gehört in diesen Kontext. - Absolut unbezahlbar ist auch der Kurzauftritt von Lukes Tochter April zu Beginn der dritten Episode. Sie geriert sich als typische links-feministische Studentin, schwärmt von einer Begegnung mit Noam Chomsky und schockiert ihren Vater mit der Information, dass sie eine Kampagne zur Legalisierung von Marihuana unterstütze; aber als sie einen Moment lang allein mit Rory ist, hat sie aus heiterem Himmel eine Panikattacke und gesteht: "Ich habe Noam Chomsky nie gesehen. Pot geraucht habe ich nur ein einziges Mal - und danach Käse gegessen." Ebenfalls in Folge 3 werden ausgiebig die Proben zu einem (natürlich von Taylor initiierten) Stars Hollow-Musical geschildert; dieses Musical, oder zumindest die Tatsache, dass es so breiten Raum in dieser Serienepisode einnimmt, finden die Rezensentinnen Plitt und Olmstead einhellig doof - weshalb ihnen, so jedenfalls meine These, ein wichtiger hermeneutischer Schlüssel für die Interpretation von Gilmore Girls - A Year In The Life schlicht entgeht. Die Ausschnitte aus diesem Musical enthalten derart viele gleichermaßen bizarre wie beziehungsreiche Details, dass man darüber unschwer einen eigenen Artikel verfassen könnte; den Höhepunkt bildet jedoch ein Lamento über die Ärgernisse der modernen Welt: 

The world is a terrible place 
There's junk mail and terrorism
Tiny airplane seats 
New weird viruses 
Really small print 
And tank tops 
Anything by Jeff Koons 
Spam (not the food) 
Those 'Occupy' radicals 
What restaurants charge for wine 
And Putin...  

Wenn im weiteren Verlauf dieser Musical-Nummer das Städtchen Stars Hollow gewissermaßen als Refugium vor all diesen Verrücktheiten der modernen Welt angepriesen wird, handelt es sich dabei natürlich um eine typische Taylor-Phantasie, von der der Zuschauer nur zu genau weiß, dass sie nicht stimmt. Dennoch hat mich diese Musical-Szene entscheidend in der Auffassung bestärkt, dass all die weiter oben aufgeführten anekdotischen Handlungselemente zwar nicht unbedingt Kritik, aber doch so etwas wie eine vorkritische Irritation darüber implizieren, wie sonderbar und verwirrend die Welt in den Jahren seit der letzten Gilmore Girls-Staffel geworden ist. Letztlich wird sogar Rorys so untypische Ziellosigkeit und Unentschlossenheit als ein über-individuelles Zeitsymptom kontextualisiert: In Stars Hollow gibt es einen "Um-die-30-Club", dessen Mitglieder nach diversen gescheiterten Versuchen, in der "Welt da draußen" Fuß zu fassen, wieder bei ihren Eltern wohnen; und folgerichtig gibt es auch einen Elternkreis des Um-die-30-Clubs, der Lorelai als Mitglied zu gewinnen sucht. 

Alles in Allem lautet mein Fazit: War die Serie Gilmore Girls unterschwellig "schon immer" konservativer, als sie es auf den ersten Blick scheinen mag, so gilt das für A Year In The Life erst recht; ein Umstand, den Gracy Olmstead im Federalist zweifellos gewürdigt haben würde, wenn sie ihn denn bemerkt hätte. - Keine Gnade findet in den Augen dieser Kritikerin auch die Wendung, dass Lorelai am Ende der dritten Folge auf die Idee kommt, zur "Selbstfindung" auf den Pacific Crest-Wanderweg zu gehen - auf den Spuren des Bestsellers "Wild" (dt. "Der große Trip") von Cheryl Strayed. Das passe nicht zu ihr, meint Gracy Olmstead; schließlich könne man sich auf der Basis der bisherigen sieben Serienstaffeln kaum eine Person vorstellen, die weniger zu Outdoor-Aktivitäten aufgelegt sei als Lorelai Gilmore. Da kann ich nur sagen: Das ist doch gerade der WITZ, Gracy! Gerade vor dem Hintergrund meiner noch frischen Jakobsweg-Erfahrung hatte ich enormen Spaß daran, zuzusehen, wie Lorelai sich zu Beginn der vierten und letzten Episode tatsächlich aufmacht, diese Schnapsidee in die Tat umzusetzen - und dabei auf lauter gleichgesinnte Frauen trifft, die sich lediglich darin unterscheiden, ob sie nach dem Buch oder nach dem Film wandern. Das ist natürlich satirisch zugespitzt, aber SO weit weg von der Realität ist es wohl nicht - es gibt schließlich auch Leute, die wegen Hape Kerkeling auf den Jakobsweg gehen, und die sind wirklich so drauf. In den Gesprächen zwischen Lorelai und den anderen Möchtegern-Abenteurerinnen habe ich jedenfalls so Einiges wiedererkannt. Und wenn man dann sieht, wie Lorelai ihren Rucksack packt - und wie sie ihn trägt - dann weiß man, wenn man auch nur ein Minimum an Erfahrung mit derartigen Wandertouren hat: Das kann nicht gut gehen. Und tut es natürlich auch nicht. Am ersten Tag ist das Wetter zu schlecht, also wird der Aufbruch erst einmal verschoben; und am zweiten Tag gibt sie dann ganz auf. Ein Scheitern ist das aber im Grunde doch nicht - denn die Selbsterkenntnis, die Lorelai sich von diesem Trip erhofft hat, findet sie auch so. Das ist inmitten all der Komik eine berührende und ergreifende Szene -- und mehr soll hier nicht verraten werden.  

P.S.: Der/die Erste, der/die in der letzten Episode die ausgesprochen lustige Anspielung auf den Film The Social Network entdeckt, darf sich bei mir ein Thema für einen künftigen Artikel wünschen! :) 




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