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Donnerstag, 5. Januar 2017

Der Sprung des Glaubens und wo man damit landen kann

Lieber Jochen, 

angeregt durch die Kommentarschlacht zu meinem Neujahrsartikel habe ich mal ein bisschen im Blog-Archiv zurückgeblättert und festgestellt, dass wir so ungefähr dieselbe Diskussion bereits im April und in Ansätzen sogar schon im letzten Januar geführt haben. Das ist an sich natürlich überhaupt nicht schlimm. Allerdings hat das Nachlesen unserer früheren Diskussionen meinen Eindruck verfestigt, dass ich eigentlich alles Nötige dazu, dass und warum ich Fragestellungen, die sich aus einer naturwissenschaftlich geprägten Weltsicht ergeben, als eher wenig relevant für den Glauben empfinde, schon einmal gesagt habe. 

Andererseits: Dass Du so beharrlich auf derartige Fragestellungen zurückkommst, zeigt mir, dass sie für Dich durchaus relevant sind und dass ich das akzeptieren und ernst nehmen sollte. 

Ich hatte schon vor nun bald einem Jahr gesagt - ich paraphrasiere jetzt mal, um weder Dich noch mich damit zu langweilen, mich wortwörtlich zu wiederholen -, dass die Naturwissenschaft sich ihrem Wesen und ihrer Methodik nach darauf beschränkt, die physische Realität zu untersuchen, und somit über eine etwaige metaphysische Realität gar nichts aussagen kann. Dass, wie Du neulich schriebst, die Gottesfrage für die Naturwissenschaft keine Rolle spielt, ist somit folgerichtig und "methodenimmanent"; daraus folgt aber, dass der Satz auch umgekehrt gilt: Für die Gottesfrage spielt die Naturwissenschaft (zunächst einmal) keine Rolle. 

Soweit meine Ausgangsthese, aber wie das eingeklammerte "zunächst einmal" schon andeutet, muss oder will ich sie ein wenig modifizieren. Es leuchtet mir schon ein, dass man aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen existentielle Fragen bezüglich des eigenen Daseins ableiten kann. Zum Beispiel: Welche Bedeutung kann meine Lebensleistung vor dem Horizont der schieren Größe (und des Alters) des Universums überhaupt haben? Oder: Wie kann es sein, dass ich mich als mit mir selbst identisch wahrnehme, wenn die Atome, aus denen die Zellen meines Körpers (einschließlich meines Gehirns) bestehen, heute ganz andere sind als noch vor ein paar Jahren? 

Solche Fragen kann man sich stellen. Aber wozu sind sie nütze, wenn nicht dazu, zu dem Schluss zu kommen, die eigene Existenz sei bedeutungslos? Eine nicht besonders motivierende Erkenntnis, würde ich meinen. Dennoch schaffen es die allermeisten Menschen, morgens aufzustehen und an ihr Tagwerk zu gehen. Und nicht nur die, die sich solche Fragen niemals stellen. Ja, das wohl Erstaunlichste ist, dass selbst existentialistische Philosophen das tun, deren Tagwerk genau darin besteht, Essays über die Bedeutungslosigkeit des Daseins zu verfassen. Warum sollte jemand so etwas tun? Schon Chesterton stellte mit Bezug auf Nietzsche fest - das genaue Zitat habe ich gerade nicht griffbereit -: Anzunehmen, die eigene Existenz sei absurd, und dann Zeit und Mühe darauf zu verwenden, Andere von der Absurdität des Daseins zu überzeugen, ist potenzierte Absurdität. 

Wenn also Menschen nicht in der Lage sind, einen Sinn in ihrem Dasein zu finden, und dennoch so leben, als hätte ihr Dasein einen Sinn, dann deutet das darauf hin, dass dieser Sinn unabhängig von ihnen existiert. C. S. Lewis argumentierte, allein die Tatsache, dass Menschen nach einem Sinn suchen, sei ein Beweis (nicht "proof", aber "evidence") dafür, dass es diesen Sinn gibt. Das muss man nicht überzeugend finden; aber schon indem man von der Möglichkeit Gebrauch macht, es nicht überzeugend zu finden, fällt man ein Urteil mittels des Verstandes, und schon dies zu tun setzt die Annahme, dass so etwas wie Sinn existiert, voraus. Lewis würde das jedenfalls so sehen. 

Diesen Sinn kann, wie gesagt, die Naturwissenschaft nicht finden, da die Frage danach nicht in ihren Bereich fällt. Was also tun? -- Kierkegaard war der Ansicht, der Absurdität und Bedeutungslosigkeit des Daseins könne man nur durch den "Sprung des Glaubens" (oder "Sprung in den Glauben") überwinden. Nach seinem Verständnis wäre dies allerdings ein Sprung, der die Vernunft hinter sich lässt, denn Vernunft und Glaube hätten, so meinte Kierkegaard, "einander nichts zu sagen". Ich habe - entschuldige, wenn ich hier kurz mal persönlich werde - zuweilen den Eindruck, dass Du diese Auffassung auch bei den von Dir so betitelten "Kampfchristen" vermutest bzw. ihnen unterstellst. Tatsächlich lehrt die Katholische Kirche das glatte Gegenteil, nämlich dass der Glaube vernunftgemäß sei; dass Gott die Welt vernünftig erschaffen hat und dass die Vernünftigkeit der Schöpfungsordnung, die der Mensch mittels der ihm verliehenen Vernunft erkennen kann, geradezu eine Spur Gottes ist, ein Kennzeichen, durch das die Schöpfung auf den Schöpfer zurückverweist. Das würde, wie wir gesehen haben, auch der Anglikaner Lewis unterschreiben. 

Dennoch hat Kierkegaard bis zu einem gewissen Grad Recht, wenn er den Akt des Glaubens als einen "Sprung" beschreibt - einen Sprung ins Ungewisse. Auch wenn die Schöpfung auf den Schöpfer verweist (weshalb es, nebenbei bemerkt, nicht nur kein Widerspruch, sondern sogar ausgesprochen folgerichtig ist, dass es große Naturwissenschaftler gab und gibt, die zugleich sehr gläubige Christen waren und sind), ist Gott doch wesentlich verschieden von der Schöpfung, also der physischen, sinnlich wahrnehmbaren Realität. Der jetzige Papa emeritus Benedikt XVI. schrieb 1968 in seiner "Einführung in das Christentum", dass "es zwischen Gott und Mensch eine unendliche Kluft gibt; weil der Mensch so beschaffen ist, dass seine Augen nur das zu sehen vermögen, was Gott nicht ist, und daher Gott der für den Menschen wesentlich Unsichtbare, außerhalb seines Sehfeldes liegende ist und immer sein wird." Daraus ergibt sich, so der damalige Professor Ratzinger weiter: "Immer schon [!] hat Glaube etwas von einem abenteuerlichen Bruch und Sprung an sich, weil er zu jeder Zeit das Wagnis darstellt, das schlechthin nicht zu Sehende als das eigentlich Wirkliche und Grundgebende anzunehmen." 

"Ich frage mich, ob man sich dafür entscheiden kann, glauben zu wollen", hast Du in einem Deiner jüngsten Kommentare geschrieben. Die Antwort lautet Ja. Der Glaube selbst - das ist in unserer Diskussion schon mehrfach angeklungen - ist einerseits eine Gnade, ein Geschenk, und somit nichts, was man "selber machen" kann. Aber dieses Geschenk anzunehmen, Ja zum Glauben zu sagen, bleibt ein Entschluss des einzelnen Menschen - ein "Sprung", ein Wagnis. Ohne diesen Sprung geht es nicht. Man hört und liest immer wieder von Menschen, die, zuvor gänzlich ungläubig, ein so intensives und erschütterndes Gotteserlebnis hatten, dass es ihnen daraufhin geradezu selbstverständlich, alternativlos erschien, den Glauben anzunehmen. Einige solche Fälle kenne ich aus meinem engsten persönlichen Umfeld. Ein Sprung bleibt es auch dann noch. Solange man diesen Sprung nicht gewagt hat, kann man nicht sehen und begreifen, sondern allenfalls in unklaren Umrissen erahnen, was auf der anderen Seite ist. (Das ist ein bisschen so wie mit der roten und der blauen Pille in "Matrix", aber dazu vielleicht ein andermal - das würde hier und jetzt zu weit führen.) 

Und aus genau diesem Grund ist es so schwierig und so unbefriedigend, über den Glauben auf einer rein theoretischen Ebene zu sprechen. Glauben ist im christlichen Verständnis nicht in erster Linie eine Theorie, ein Gedankengebäude, eine "Weltanschauung", sondern zuerst und vor allem eine lebendige Beziehung zu Gott. Wenn man einmal erfahren hat, dass Gott real ist, dann erscheinen einem gelehrte Abhandlungen über die Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit von Gottesbildern mit wissenschaftlichen Erkenntnissen schlicht gegenstandslos. Dann erscheinen Gedankengebäude, die Gott mehr oder weniger "wegzuerklären" versuchen, wie ein geistiger Turm von Babel, mit dem die Menschen den Himmel erreichen zu können meinen, der aber aus der Perspektive Gottes so mickrig ist, dass Er herabsteigen muss, um ihn zu betrachten (Gen 11,5!). 

Mir ist bewusst, dass das für jemanden, der diese unmittelbare Gotteserfahrung nicht kennt, sehr fremd und wenig hilfreich klingen muss. Aber es liegt nicht an mir, das zu ändern. Das Christentum beginnt historisch mit dem persönlichen Zeugnis derer, die dem auferstandenen Christus begegnet sind, und so beginnt Christsein bis heute immer wieder, überall auf der Welt. Alles, was danach kommt - Fundamentaltheologie, Dogmatik, Apologetik und, ja, auch Liturgie und Kirchenrecht -, hat seinen sinnvollen und notwendigen Platz im Gesamtgefüge der kirchlichen Glaubenslehre; aber ohne den ständigen Rückbezug auf diesen ersten Satz der christlichen Verkündigung - "Jesus lebt; wir sind ihm begegnet!" - wären all diese Dinge nichts als leergedroschenes Stroh. 

Mehr habe ich im Augenblick nicht zu sagen. 


P.S.: Doch, eins noch. Allmählich scheint mir, wir könnten aus unserem Austausch ein Buch machen. Was hältst Du von der Idee? 


6 Kommentare:

  1. Jetzt verlinke ich noch mal schnell die Ergänzung von Josef Bordat:

    https://jobo72.wordpress.com/2017/01/05/glaube-als-wagnis/

    (dann ist das hier in dem Bereich auch erledigt)

    und nicht unbedingt im Widerspruch dazu, aber ebenfalls als Ergänzung, folgendes, das mit dem Ausdruck "Glauben wagen" etwas kritischer umgeht:

    http://www.theologisches.net/index.php?option=com_content&view=article&id=72&catid=40

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    1. Ich bin leider momentan schwer erkältet, du wirst dich mit einer Antwort noch etwas gedulden müssen.

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  2. Lieber Tobias! Du bist gerade mit etwas anderem schwer beschäftigt und ich noch etwas malad... zum besseren systematischeren Austausch habe ich für unser weiteres Gespräch ein öffentliches edupad (https://edupad.ch/ys5bx0hN8n) eingerichtet [Vorsicht an alle: nicht löschbar!]. Die Funktionsweise ist - galube ich - selbsterklärend. Ich beginne mal mit dem letzten Abschnitt und werde mich dann etwas später zu den Themen Realität, Sinn, Glaubenssprung, Vernunft äußern.

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    1. Hab mir grad mal angesehen, was Du ins edupad geschrieben hast, und mir fiele auch schon allerlei dazu ein -- muss mich demnächst mal in die Bedienung reinfummeln... Jedenfalls freue ich mich, dass Bewegung in die Debatte kommt! :)

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  3. http://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/raoul-schrotts-erste-erde-und-die-religion-14590873-p13.html
    Passt zu deinem Post...Gruss Alfred S.

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