Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Mittwoch, 13. September 2017

Von der Nabel- zur Pimmelschau und zurück

oder: Von der sexuellen Befreiung des Christenmenschen 

Neulich unterhielt ich mich mit einer Freundin, von der auf diesem Blog schon öfter die Rede war und die seit ein paar Monaten Single ist. Letzteres erwähne ich nicht in der Absicht, sie zu verkuppeln, sondern weil es für sie ein ziemlich ungewohnter Zustand ist: Die letzte längere Zeitspanne, in der sie nicht in einer Beziehung war, liegt gut acht Jahre zurück. "Und seitdem hat sich die Dating-Kultur wirklich rapide verändert", ließ sie mich wissen. "Ich komm' da nicht mehr mit. Ich bin ja eher die Person, die sich in einer Kneipe an die Theke setzt und 'Hi' zu Leuten sagt. Macht man heutzutage aber nicht mehr. Heutzutage gibt es Tinder, und Leute schicken dir unaufgefordert Penisfotos." 
"Ja, aber - will man das?", warf ich stirnrunzelnd ein. 
"Das ist überhaupt nicht die Frage", erklärte meine Freundin. "Der Punkt ist, es ist eine Realität - und zwar eine, die bisher komplett an uns vorbeigegangen ist." 

(Bildquelle: Pixabay
Daran musste ich denken, als ich jüngst - dank einem Eintrag bei Theoradar, dem alten Westgotenhäuptling - auf einen Blog namens "Auf'n Kaffee mit Rolf Krüger" stieß, und zwar konkret auf einen derzeit offenbar heiß diskutierten Artikel mit der Überschrift "'Nashville' und 'Denver' im Vergleich: Wie glaubst du?". Ich schicke voraus, dass ich beim ersten Überfliegen der Einleitung die Assoziation hatte, der zweite Teil der Überschrift hätte besser "Was rauchst du?" lauten sollen; aber mal der Reihe nach. Allen, die ebenso wie ich mit "Nashville" in erster Linie Country-Musik und mit "Denver" eine TV-Familiensaga aus den 80er Jahren assoziieren, sei gesagt, dass das "Nashville Statement" eine speziell in evangelikalen Kreisen erhebliches Aufsehen erregende Resolution ist, die im Grunde nichts Anderes tut, als eine konservativ-christliche Sexualethik zu "re-inforcen", wie man das so schön nennt; und das "Denver Statement" ist eine Erwiderung darauf, verfasst von der bei unseren Nachbarn in der Ökumene gerade sehr hoch gehandelten Theologin Nadia Bolz-Weber. Das ist "die mit den Tattoos", aber dazu später. Nun könnte diese ganze Debatte mir als Katholikem[*] eigentlich herzlich egal sein. Wer braucht ein Nashville Statement, wenn er die Theologie des Leibes hat. Darum habe ich mich mit Rolf Krügers unautorisierter Arbeitsübersetzung beider "Statements" auch gar nicht eingehender befasst; mir reichte schon sein Einleitungstext. Den finde ich allerdings durchaus illustrativ, nämlich für den von mir schon öfter geahnten Umstand, dass es auf Gottes schöner Erde kaum etwas Spießigeres und Langweiligeres gibt als liberale Protestanten. Okay: Liberale Katholiken sind eventuell noch etwas schlimmer, aber die dürfte es per definitionem ja eigentlich überhaupt nicht geben bzw. sind in Wirklichkeit eigentlich auch Protestanten. 

Was veranlasst mich zu diesem harschen Urteil? Nun, einerseits meine unausrottbare Lust an der Polemik, und andererseits betulich-grundschulpädagoginnenhafte Publikumsbeteiligungs-Aufforderungen wie "Welche Weltsicht entspricht euch?" (würg!), vor allem aber Sätze wie: "'Nashville' wendet sich gegen alle von uns, die Sexualität jenseits der klassischen, monogamen, heterosexuellen Ehe genießen (möchten)". Das steht da wirklich! Ja, ich sehe sie ganz lebhaft vor mir, die braven Christen, die so gern "Sexualität genießen möchten", aber die böse, böse Nashville-Fraktion lässt sie nicht. Heititei, die Küche brennt. 

Was das Ganze mit der obigen Erwähnung von Tinder und Penisfotos zu tun haben könnte, zeigt Krügers beiläufige Erwähnung von "One-Night-Stands, Tinder-Bekanntschaften oder offenen Beziehungen", von denen er allerdings meint, dass sie "für die meisten Christen zur Zeit wohl kein akutes Thema sein dürften". Man beachte die dreifache Einschränkung: "die meisten Christen", "zur Zeit", "kein akutes Thema". Für einige ist es also vielleicht doch schon ein Thema, und für die übrigen vielleicht später mal, so in 20, 30 Jahren, wenn sie ihren Rückstand gegenüber der sexuellen Befreiung der Mainstream-Gesellschaft aufgeholt haben. Im Ernst: Diese Nebenbemerkung zeigt in unbeabsichtigter Deutlichkeit, wie out of touch die ganze Debatte ist. Während konservative und liberale Christen damit beschäftigt sind, 40, ja eigentlich schon 50 Jahre alte Kämpfe der Sexuellen Revolution im Sandkasten nachzuspielen, ist der Zug in der realen Welt schon ganz, ganz weit abgefahren. Ärzte registrieren eine rapide zunehmende Zahl von Mädchen im Teenageralter und zum Teil noch darunter, die infolge exzessiven Analverkehrs an rektaler Inkontinenz leiden, und Rolf Krüger macht sich Sorgen, weil 'Nashville' "auch den für junge Christen inzwischen ganz normalen Sex in einer Beziehung zwischen Unverheirateten verurteilt". -- Was "normal" ist und was nicht, ist übrigens insgesamt ein ganz großes Thema für ihn. Woraus man schließen kann, dass er es im Wesentlichen als eine Frage von Konventionen betrachtet, was "erlaubt" ist (bzw. sein sollte) und was nicht. Interessanterweise unterstellt er dieselbe Sichtweise auch den Konservativen, wenn er schreibt, diese würden "eigentlich alles" ablehnen, "was nicht bis neulich 'normal' war". Mir fällt dazu Tertullian ein: "Christus hat gesagt: Ich bin die Wahrheit, nicht: Ich bin die Gewohnheit." Aber das nur nebenbei. "Die Frage", so meint Rolf Krüger, "ist also generell: Wie wollen wir als Christen leben? Eng oder weit? [Man verzeihe mir, wenn ich hier einwerfe, dass diese Formulierung im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Thema Analverkehr und Inkontinenz bei mir recht unschöne Assoziationen weckt.] Voller Abgrenzung oder voller Neugier?" 

Vielleicht ist es nicht unmittelbar einleuchtend, wie ich zu der Einschätzung komme, die hinter solcher Rhetorik verborgene Einstellung sei spießig und verklemmt. Ich will's mal ganz simpel ausdrücken: Den Wunsch nach Weite wird vor allem derjenige verspüren, der aus der Enge kommt. Ich meine damit nicht unbedingt Rolf Krüger persönlich, schließlich kenne ich den Mann überhaupt nicht. In Hinblick auf das Thema Konventionen finde ich es allerdings recht bezeichnend, dass die Theologin Nadia Bolz-Weber in Krügers Text als "die (nicht nur) durch ihre Tatoos bekannte Pastorin" eingeführt wird. Boah, eine Pastorin mit Tattoos! Das ist wie damals in den 80ern, als Joschka Fischer hessischer Umweltminister wurde: Boah, ein Minister mit Turnschuhen und ohne Krawatte! Den einen ein Ärgernis, den anderen ein Hoffnungszeichen, aber so oder so lenkt es eigentlich nur von den Inhalten ab. Man kann sich allerdings gut vorstellen, wie eine tatöwierte Nadia Bolz-Weber bei denjenigen Christen ankommt, in deren Herkunftsmilieu die Frage, wie man gottgefällig leben könne und solle, sich auch auf Kleidung und Frisur erstreckte, Christsein also auf schier unentwirrbare Weise mit Spießertum verquickt war. Um dieser Form von "Enge" zu entkommen, verfällt man gern ins gegenteilige Extrem - i.d.R. ohne zu merken, dass es da im Grunde genauso "eng" ist. 

Allgemein ist es ja ein ganz interessantes Phänomen, dass gerade in Teilen der evangelikalen Bewegung in jüngster Zeit ein verstärktes Bemühen zu beobachten ist, eine "freiere" Sexualmoral zu propagieren und diese möglichst irgendwie theologisch abzusichern. Nun möchte ich behaupten: Dass Jugendliche bzw. junge Erwachsene aus evangelikalen Familien sich gegen die puritanische Moral ihrer Altvorderen aufgelehnt haben, das gab's in den 60ern auch schon. Damals ist man dann halt zu Hause ausgezogen, nach Milwaukee gegangen und hat in der Rollschuhdisco ein heißes Girl aufgegabelt. Oder so. So ganz losgeworden sind die jungen Leute die Moralvorstellungen, mit denen sie aufgewachsen sind, natürlich nicht, auch wenn sie nicht danach gelebt haben. Rockmusik-Texte sind voll von diesem Konflikt, man studiere nur mal exemplarisch das Album Bat out of Hell von Meat Loaf (1977) - es lohnt sich. Der Unterschied zu heute ist, damals war es noch eine richtige Rebellion. Heutzutage will man die Regeln ändern, um nicht mehr gegen sie verstoßen zu müssen. Und das, also, sorry. 

Augen auf beim Kaffeesauf!
(Bildquelle: Flickr
Bezeichnend ist es in diesem Zusammenhang, dass der Gedanke, die - sagen wir mal: "tradierte" - christliche Sexualethik könne noch einen anderen Zweck haben als den, Menschen zu gängeln und einzuschränken, im Denken derer, die diese Ethik partout "liberalisieren" wollen, überhaupt nicht vorkommt. Also, dass Ge- und Verbote, die darauf abzielen, dem Ausleben des Geschlechtstriebs gewisse Grenzen zu setzen, beispielsweise auch den Zweck haben könnten, die Menschen vor allerlei Üblem zu bewahren. Auf diese Weise kommt auch nicht in den Blick, dass Phänomene wie die oben andeutungsweise beschriebenen nicht einfach "Betriebsunfälle" der Sexuellen Revolution sind, sondern ganz folgerichtige Entwicklungen: Dass, wenn der organische Zusammenhang zwischen Liebe, Sexualität und Elternschaft - und zwar im Rahmen der Ehe! - aufgebrochen wird, Sex über kurz oder lang zur Ware wird, und zwar nicht allein in Form von gewerbsmäßiger Prostitution und Pornographie, die es schließlich früher auch schon gab, sondern auch in allen möglichen und unmöglichen anderen Formen, ist eine Beobachtung, die man bereits aus der Enzyklika Humanae Vitae (1968!) des Sel. Paul VI. extrapolieren kann, von der oben erwähnten Theologie des Leibes des Hl. Johannes Paul II. ganz zu schweigen. 

-- Zum Stichwort "Das gab es früher auch schon" ist übrigens natürlich zu sagen: Dass Menschen, und darunter auch durchaus fromme Christen, sich mit Dingen wie ehelicher Treue und außerehelicher Enthaltsamkeit schwer tun und auch zuweilen dagegen verstoßen, hat es immer gegeben und wird es diesseits des Himmels auch immer geben. Das nennt man dann halt sündigen. Sünde ist, buchstäblich seit Adam und Eva, eine Realität der conditio humana, mit der man rechnen muss; und wenn sie sich nicht im sexuellen Bereich verwirklicht, dann in anderen Lebensbereichen. Das Problem der liberalen Klemmis ist nun aber, sie wollen eine Version des Christentums, die ihnen die Erlaubnis zum Sündigen erteilt. Was aber nun mal nicht geht, denn was erlaubt ist, das ist ja keine Sünde mehr. Und somit eben: langweilig. 



[*] Rettet dem Dativ!


2 Kommentare:

  1. Chapeau! Habe das mit Genuss gelesen. Spontan viel mir der hl. Augustinus ein: "Liebe und tue was du willst!" Sündenfrei, versteht sich.

    AntwortenLöschen
  2. Sehr guter Text, Liberalen leider vermutlich unverständlich. Aber mit dem Problem muss man halt leben, so als Apologet.

    AntwortenLöschen